Über Steinbrücks "Wutrede"…

Steinbrück hält in Erfurt Wutrede gegen Politiker-Verächter und zieht NS-Vergleich

  • SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hielt am Dienstagabend in Erfurt eine Wutrede gegen jene, die Politiker und Menschen im Ehrenamt nur beschimpfen. Foto: Bernd Settnik/dpa SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hielt am Dienstagabend in Erfurt eine Wutrede gegen jene, die Politiker und Menschen im Ehrenamt nur beschimpfen. Foto: Bernd Settnik/dpa
Erfurt. Der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, besucht an diesem Mittwoch ein Unternehmen und eine Berufsschule in Erfurt und trifft in Jena Studenten. Bereits am Dienstagabend trat er im Erfurter Comcenter vor etwa 200 Menschen auf. Am Ende hielt er, der in den letzten Monaten stark angegriffen worden war, ein Plädoyer für Parteien, Menschen im Ehrenamt und den Politiker an sich – und eine Wutrede gegen jene, die diese immer nur beschimpften.

Dabei zog er auch Parallelen zum Aufstieg der Nationalsozialisten: Die „Verachtung“, die Politikern entgegen schlage, erinnere ihn da das, was man „in Deutschland schon mal“ gehabt hätte. Vor 80 Jahren sei das Ergebnis dieses Umgangs mit Politikern sichtbar geworden. Wörtlich sagte er: „Wenn die Kritik – an Politikern und Parteien – (die Red.) in eine Art Verachtung fällt, dann kriegen Sie es mit mir zu tun. Das hatten wir in Deutschland schon mal übrigens, vor ziemlich genau 80 Jahren war das Ergebnis sichtbar.“ Steinbrück forderte dazu auf, mit Menschen, die sich für das Gemeinwohl engagierten, „respektvoller“ umzugehen. Die Haltung, das Politiker „alle verrückt“ seien und „alles falsch“ machten, bringe ihn „aufs Dach“. Wir dokumentieren die Redepassage vollständig:

„Wenn die Kritik – an Politikern – (die Red.) in eine Art Verachtung fällt, dann kriegen Sie es mit mir zu tun. Das hatten wir in Deutschland schon mal übrigens, vor ziemlich genau 80 Jahren war das Ergebnis sichtbar. Sondern dann frage ich Sie nämlich, wer an Stelle von demokratischen Parteien demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen unter Wahrung eines Minderheitenschutzes in einer toleranten Gesellschaft vornehmen soll? Wer denn dann außer Parteien? Meinungsumfragen? Talkshows? Ältestenrat, natürlich nur aus alten Männern bestehend? Bürgerinitiativen? Wer an Stelle von Parteien – überlegen Sie sich das ganz genau – in einer 80-Millionen-Gesellschaft, wer an Stelle von Parteien soll Mehrheitsentscheidungen herbei führen, so dass wir uns die Köppe nicht einschlagen und die Konflikte minimieren. Und die Frage können Sie mir nicht beantworten, wer an Stelle von Parteien dies machen sollte. Wenn das aber so ist, dann möchte ich, dass Sie gelegentlich mit den Vertretern und den Frauen und Männern, die sich engagieren, die kommunale Mandate erwerben wollen, die für einen Landtag kandidieren, die bereit sind, Ämter zu übernehmen, dass wir gelegentlich etwas respektvoller mit denen umgehen. (Applaus)
Das betrifft auch viele andere. Aber Sie müssen wissen: 95 Prozent aller Politiker sind ehrenamtlich tätig. Ehrenamtlich! Wie komme ich auf die 95 Prozent: Das sind alles Kommunalpolitiker, bis auf die, die hauptamtlich sind. Die sind alle ehrenamtlich tätig. Die kriegen in manchen Ländern eine, was weiß ich, wie heißt das nochmal: Aufwandspauschale von, was weiß ich, 150, 200 Euro. Das ist nicht der Rede wert. Wie, noch geringer? Okay, oder 15 Euro pro Sitzung. Und dann sitzen die da, mit ihren verschiedenen Räten, und dann werden sie auch noch angegangen. Dann wird der Ehefrau des einen Kommunalpolitikers gesagt, die Laterne um die Ecke funktioniert ja nicht, kann da nicht Ihr Mann mal was machen? Und das Kind in der Schule wir auch noch angegagt und angemobbt: Dein blöder Vater, der sorgt ja nicht mal dafür, dass wir ausreichend Lehrer haben. Und da gibt es noch andere, die sagen: Bist du bescheuert, du sitzt da von 19 bis 23 Uhr in so nem Gremium, ich habe in der Zeit nen schönen Tatort gesehen! Bist du eigentlich beknackt, das zu machen? So. Und dann hast du den ganzen Samstag geopfert, um dabei im Schreberverein oder der Freiwilligen Feuerwehr zu sein, da haben wir schön im Garten gegrillt. Thüringer Bratwürstchen, alles klar! Da haben wir ein schönes Pils getrunken, und du bist so beknackt und haust dein ganzes Wochenende da noch drauf und musst da morgens um neun auch wieder hin. Ja, stellen Sie sich mal vor, wir hätten die nicht! Da werde ich langsam leidenschaftlich.
Für Nordrhein-Westfalen kann ich das besser beurteilen: Da werden bei einer Kommunalwahl 10.000 Mandate zu besetzen sein. 10.000 Mandate. Inzwischen haben wir die Situation, dass es nicht genug Frauen und Männer gibt, die sich dafür bewerben. Mit der Frage lasse ich sie nach Hause gehen, was es auf Dauer für die Substanz dieses demokratischen Gemeinwesens heißt, wenn es nicht mehr genügend Frauen und Männer gibt, die sich dafür bewerben, weil die sagen: Bin ich blöd? Ha? Geiz ist geil! Ich sorg nur für mich selbst. Das läuft dann nach dem Motto: Alle denken an sich, nur ich denke an mich. Und dieses Gemeinwesen ist mir piepegal.
Aber so funktioniert das nicht. Und deswegen kriegen Sie mich aufs Dach, wenn Sie eine Haltung gegenüber Politikern und gegenüber Parteien haben, die sind sowieso alle verrückt und die machen alles falsch. Wir machen einiges falsch, aber gelegentlich gelingt uns auch etwas, um diese Gesellschaft zusammen zu halten. Vielen Dank. (Applaus)“
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